Barbara Dribbusch

Journalistin & Autorin

Plötzlich sind die Falten wurscht | TAZ 8.3.2016

FRAUENTAG Wenn man die eigene Endlichkeit spürt, lassen einen viele äußere Zwänge kalt. Das kann ganz schön sein.

Es gab mal eine Friseurwerbung, auf der eine junge, sorgfältig coiffierte Frau das Publikum anlächelte und den Satz sagte: „Für die inneren Werte ist später noch Zeit.“

Interessanter Satz.
Er suggeriert: Wer jung ist, sollte sich erst mal auf die äußeren Werte konzentrieren. Sie bringen mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuwendung, mehr Liebe. Es lohnt sich, in die äußeren Werte zu investieren und regelmäßig zum Friseur zu gehen, statt die Haare einfach nur vor sich hin wachsen oder gar von einer Freundin zu Hause schneiden zu lassen.

Der Satz suggeriert auch: Die inneren Werte entwickle ich dann, wenn mir eh nichts anderes übrig bleibt.Wenn ich nicht mehr viel machen kann gegen Falten, dünne Haare und die Fettrolle auf den Hüften. Dann entdecke ich die inneren Werte: Freundschaft, Güte, Naturliebe, solche Dinge. Die inneren Werte wären dann eine Art Notwehr, weil wir als ältere Frauen nicht mehr mithalten können im Rennen um die äußeren Werte, um glatte Haut, schlanke Taille und volles Haar, um Schönheit.

So könnte es sein. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es anders. Wir lösen uns im Alter von den äußeren Werten, von den Zwängen der Schönheitsnormen, nicht indem wir eine moralische Entwicklung vorgaukeln, aber auch nicht weil wir eine tolle weibliche Selbstfindung erleben oder gar eine stärkere Persönlichkeit kriegen. Das ist Quatsch. Man spürt im Alter eine viel stärkere Verletzlichkeit.

Eine andere Zeitlichkeit

Nein, die äußeren Zwänge verblassen ganz automatisch, weil wir in eine andere Zeitlichkeit katapultiert werden. Der ungarische Autor Sándor Márai beschrieb, welche Wende es bedeutet, wenn man plötzlich die eigene Sterblichkeit, die Endlichkeit spürt. Das kann ausgelöst sein durch die schwere Erkrankung oder den Tod eines nahen Menschen der gleichen Generation, mit dem wir uns identifizieren. Durch den Tod der Eltern, durch eine unangenehme Diagnose. Ab dann läuft die Uhr. Das ist kein besonderes Verdienst.

Plötzlich erscheinen sie exotisch, die Frauen in der „Zwischenzeit“, die hungern gegen die Verdickung in der Körpermitte, die auf überteuerte Cremes schwören, sich Falten aufplustern, vielleicht sogar liften lassen, stundenlang Gerätefitness machen, das ganze Programm. Das Leben ändert sich nicht durch eine Diät. Und mehr Liebe gibt es damit auch nicht. Ist das begriffen, schleichen sich die Sorgen um Figurbreite und Faltentiefe langsam aus dem Kopf. Nicht als Akt bewusster Emanzipation, sondern weil das Gemüt mit anderen Dingen beschäftigt ist. Dann, an einem sonnigen Morgen, wenn der Wind durch die Bäume fährt, das Blau vom Himmel knallt und die Vögel tratschen, fällt einem auf, wie befreiend das ist, einfach da zu sein und nicht mehr ängstlich in den Spiegel gucken zu müssen, ja überhaupt weniger in den Spiegel zu schauen. Warum auch? Eben.

Man kann so viel tun, am Wasser entlangspazieren, Akkordeon spielen, ein paar Brocken Arabisch lernen. Der Tag entfaltet sich wie ein frisch gewaschenes Tischtuch. Genauso war es in der Kindheit, als jeder heimliche Ausflug auf dem Kinderfahrrad in ein fremdes Stadtviertel ein Abenteuer war.

Vielleicht ist das der Grund, warum die Psychologie allerlei erfreuliche U-Kurven entdeckt: Es gibt eine U-Kurve beim Glück, das Glück nimmt nach der Jugendzeit etwas ab und steigt dann jenseits der 50 oder 60 wieder an, wie eine Studie der Universität Michigan ergab. Eine U-Kurve lässt sich auch in Langzeitpartnerschaften feststellen: Zuerst sackt die Zufriedenheit mit den Jahren ab, dann legt sie wieder zu, weil man froh ist, dass der andere noch da ist, nicht hinweggerafft von Krebs oder Herzinfarkt.

Viele äußere Zwänge weichen zudem praktischer Erkenntnis. So soll es besser sein, jenseits der 65 nicht mehr abnehmen zu wollen, da geht zu viel Muskelmasse verloren. Und wer keine Freundinnen hat, die geliftet sind, steht auch selbst weniger unter Renovierungsstress, das ist bewiesen. Die Zusammensetzung des Freundeskreises lässt sich steuern. Man kann selbst Entscheidungen treffen, auch über das eigene Glück. Das Gefühl der Selbstbestimmtheit ist enorm wichtig für die Zufriedenheit im Alter, stellte der Psychogerontologe Frieder Lang fest.

„Ich würde mehr riskieren“

Sich anderen Menschen zuzuwenden, großzügig zu sein, vielleicht sogar mehr zu geben als zu nehmen, das macht zufrieden, schreibt der Bestsellerautor John Izzo in seinem Buch über „die fünf Geheimnisse, die Sie entdecken sollten, bevor Sie sterben“.

Dem argentinischen Dichter Jorge Luís Borges wird das Gedicht zugeschrieben: „Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte (…) würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. (…) Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. (…) Ich würde mehr riskieren. Ich würde mehr reisen, mehr Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen. Ich würde an mehr Orte gehen, wo ich vorher noch nie war. (…) Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen. (…) Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde.“

Wir haben glücklicherweise noch etwas Zeit. Aber auch nicht ewig. In Abwandlung des Friseurspruchs könnte man sagen: „Für die inneren Werte ist später noch Zeit. Aber für die äußeren Werte ist die spätere Zeit zu knapp.“ Was nicht bedeutet, dass wir mit über 50 nicht mehr zum Friseur gehen. Honigblond. Belebende Strähnchen. Vielleicht sogar Ansatzdauerwelle.

Aber dann ist auch gut.