Barbara Dribbusch

Journalistin & Autorin

Die erfundene Cousine | TAZ 4.11.2011

TRENDS Nicht jeder hat „Angehörige“: Wir brauchen neue Codes der Fürsorge auch in Freundschaften und Nachbarschaften. Und mehr Geld für die Pflege

Marlene K. war 55 Jahre alt, als sie einen leichten Schlaganfall erlitt. Danach wäre es für die geschiedene Lehrerin kaum möglich gewesen, allein zu leben. Sie zog für eine Weile bei einem Freundespaar ein, dessen erwachsene Kinder schon aus dem Haus waren. K. hatte Glück. Verbindliche Hilfen in Krankheitsfällen sind unter Nichtverwandten nicht die Regel. Wie man Bindungen aber so gestalten kann, dass sie auch in Notfällen tragen, entwickelt sich zur wichtigen sozialen Frage. Erst recht in einer alternden Gesellschaft mit vielen Alleinstehenden.

Nach dem „Lustprinzip“

Ein Beispiel ist das Problem mit den Krankenhausentlassungen. Allein lebende PatientInnen werden heute nach kurzer Aufenthaltsdauer mit geschientem Bein und Wechselverbänden nach Hause geschickt, auch wenn nicht klar ist, wer in der nächsten Zeit im Haushalt hilft. Ein Änderungsantrag zum Versorgungsstrukturgesetz fordert, dass Krankenkassen künftig angehalten werden, Alleinstehenden im Bedarfsfall Haushaltshilfen zu finanzieren. Doch ob und wie genau das umgesetzt wird, ist noch völlig unklar.

Das „Careprinzip“ spielt auch in Langzeitbeziehungen eine wichtige Rolle. Es wird in einer alternden Gesellschaft vielleicht sogar wichtiger als das „Lustprinzip“ einer Lebensabschnittspartnerschaft. Viele LebenspartnerInnen heiraten jenseits der 50 doch noch ihre langjährigen Gefährten, um im Zweifelsfall ein Auskunftsrecht im Krankheitsfall oder Hinterbliebenenrente zu bekommen.

Der Trend geht zur Fürsorge, aber auch zur Abgrenzung: 45 Prozent der Pflegebedürftigen in Privathaushalten werden heute durch die Kinder, Schwiegertöchter oder -söhne mitversorgt, Tendenz steigend. Der Anteil nimmt auch bei den Söhnen zu, allerdings von niedrigem Niveau aus. Das zeigen neue Zahlen aus dem Bundesgesundheitsministerium. Dabei leben die betreuenden erwachsenen Kinder seltener als früher im selben Haushalt und sind häufiger erwerbstätig. Man kann sich um den alten Vater kümmern, wenn man es nicht den ganzen Tag tun muss und ein ambulanter Pflegedienst vielleicht morgens oder abends die Grundpflege übernimmt.

„Angehörige“ sind eine Ressource, die begrenzt ist. Das verabschiedete Gesetz zur „Familienpflegezeit“, in der die berufstätigen Kinder ihre Auszeit und damit die Pflege von Mutter oder Vater selbst finanzieren sollen, dürfte daher für viele eine Überforderung sein. Die Ressourcen an „Angehörigen“ sind überdies ungleich verteilt. Eine Scheidung, Kinderlosigkeit, der Wegzug des Nachwuchses können dazu führen, dass keine direkten Verwandten vor Ort zur Verfügung stehen.

Die Hälfte der allein lebenden Senioren über 65 Jahre hat keine Verwandten in unmittelbarer Nähe. Nur sechs Prozent der Pflegebedürftigen in Privathaushalten werden hauptsächlich von Nachbarn und Freunden mitversorgt. Sieben Prozent haben außer den professionellen Diensten niemanden, der sie unterstützt. Dieser Trend weist bedauerlicherweise nach oben.

 Freundschaften neu codieren

Welche Systeme gibt es also jenseits der Normen familiärer Bindung, die bei Krankheit und Gebrechlichkeit helfen? Hierbei muss man die Codes betrachten, die Freundschaften festigen und belastbar machen. Dazu gehört die Langjährigkeit der Beziehung. Die Tatsache, dass man die andere bei Krankheit unterstützt oder in einer Klinik besucht, ist ein „Marker“ für jede Freundschaft. Es sind sensible Tauschsysteme, in denen Zeit die Währung ist: Man gibt soziale Zeit, gibt Zuwendung – und erwartet, dass im Bedarfsfall etwas zurückkommt. Doch wenn zu viel verlangt und zu wenig gegeben wird, ist die Beziehung überfordert. Im Unterschied zur Familie ist der Bindungscode in Freundschaften oder Nachbarschaften sehr viel weniger auf Moral und Verpflichtung aufgebaut – die Beziehungen sind weniger belastbar. Wir brauchen also eine Kulturdebatte über Verbindlichkeitsnormen auch in nicht verwandtschaftlichen Beziehungen.

Im selbstverwalteten Wohnprojekt der Genossenschaft Wagnis eG in München gibt es Erfahrungen zu Nachbarschaften. Dort hat sich unter den EndsechzigerInnen ein „Cousinenkreis“ gegründet. Die Scheinverwandten begleiten sich zum Arzt oder ins Krankenhaus und geben sich als Angehörige aus, um Beistand zu leisten. In Vorsorgevollmachten kann man auch Nichtverwandte als Auskunftsberechtigte einsetzen, das ist juristisch möglich.

 Am Ende geht es ums Geld

Die wechselseitige Hilfe etwa nach Krankenhausentlassungen funktioniere gut unter den 60- bis 70-jährigen Nachbarn, sagt Günter Hörlein, ein Sprecher von Wagnis eG. Bei Hochbetagten, die mehrmals wöchentlich Hilfe brauchen, müssen jedoch professionelle Dienste ran.

Die unbezahlte Hilfe hat Grenzen, wenn sie kein wechselseitiger Austausch mehr sein kann. Wer hoch gebrechlich ist, kann nur noch wenig zurückgeben für die Unterstützung – außer eben Geld. Eine stärkere Monetarisierung der Fürsorge im Alter ist daher auch ein demokratischer Akt gegenüber jenen, die nicht über Angehörige verfügen, die im Alltag helfen können und wollen, und die sehr bedürftig sind. Höhere Beiträge in die Pflegeversicherung sind daher unumgänglich.

Nur mal als Vergleich: In die Arbeitslosenversicherung zahlen Beschäftigte heute inklusive des Arbeitgeberanteils drei Prozent ihres Bruttoeinkommens ein. In die Pflegeversicherung fließen hingegen nicht mal zwei Prozent des Bruttoeinkommens. Die Pflegequote bei den über 75-Jährigen liegt aber bei zehn Prozent und klettert bei den über 90-Jährigen sogar auf 62 Prozent.

Wir brauchen also einen neuen Fürsorgemix in einer Gesellschaft der Langlebigen: eine Kulturdebatte über neue Möglichkeiten und Grenzen der Hilfe unter Freunden, Verwandten und die Förderung einschlägiger Nachbarschaftsprojekte. Zum Zweiten benötigen wir eine höhere Bereitschaft, mehr Geld in Solidarversicherungen zu investieren. Jeder kann davon betroffen sein, im Bedarfsfall keine Angehörigen vor Ort zu haben, die eine Unterstützung leisten können und wollen. Das ist keine Frage des Selbstverschuldens, sondern eine des Schicksals.