GRUNDSICHERUNG Hubertus Heil will mit einer Hartz-IV-Reform mehr individuelle Spielräume öffnen für die Jobcenter und die Betroffenen. Das ist der richtige Weg.
Es ist eine gute Gelegenheit. In einem Gesetzentwurf zur Grundsicherung für Arbeitssuchende will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) den erleichterten Zugang zu Hartz IV verstetigen, wie er in Zeiten der Coronapandemie eingeführt wurde. Corona als Türöffner für bessere Hartz-IV-Bedingungen? Die Chance besteht.
Laut Gesetzentwurf soll es einen „Vertrauensvorschuss“ geben für Hartz-IV-EmpfängerInnen. Sanktionen werden begrenzt, Wohnkosten in der tatsächlichen Höhe erst mal erstattet. Statt der bisherigen rechtsverbindlichen „Eingliederungsvereinbarung“ soll es einen „Kooperationsplan“ geben mit weniger Druck auf die Langzeitarbeitslosen.
Die Union ist dagegen. Der Gesetzentwurf sei die „schleichende Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens“, rügt CDU-Sozialexperte Peter Weiß.
Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist zwar noch in weiter Ferne, betrachtet man den Gesetzentwurf. Er enthält jedoch Flexibilisierungen, die es den SachbearbeiterInnen in Jobcentern erleichtern könnten, auf ihre heterogene Klientel künftig individueller einzugehen, und das ist gut so.
Leute, die zum ersten Mal Hartz IV beantragen, bekämen laut dem Heil’schen Gesetzentwurf wie jetzt zu Zeiten von Corona eine zweijährige „Karenzzeit“ zugebilligt: In den ersten zwei Jahren erhalten sie Hartz IV und die Wohnkosten erstattet, auch wenn sie über ein Vermögen bis zu 60.000 Euro plus 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied verfügen und in einer teuren Mietwohnung leben. Durch diese Erleichterungen soll Selbstständigen der Zugang zur Grundsicherung erleichtert werden, die vorübergehend in Not geraten und keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben. Laut Statistik bezogen im September 2020 rund 78.000 erwerbstätige Selbstständige aufstockendes Hartz IV. Angesichts einer Zahl von etwa 2,2 Millionen Soloselbstständigen ist der Anteil der Hartz-IV-Empfänger unter den Selbstständigen in der Pandemie gering geblieben.
Hartz-IV-EmpfängerInnen unter Generalverdacht
Eine gesetzlich dauerhaft festgeschriebene zweijährige Karenzzeit bei der Vermögensanrechnung und in der Wohnkostenerstattung könnte für eine andere Empfängergruppe bedeutsam werden: Ältere Beschäftigte, die ihren Job verlieren und ein, zwei Jahre Arbeitslosengeld I bekommen, könnten anschließend noch mit zwei Jahren Hartz-IV-Bezug die Zeit bis zur Rente überbrücken, ohne dass sie ihr Erspartes aufbrauchen oder in eine kleinere Wohnung umziehen müssen. Hartz IV wäre damit ein Puffer und nicht mehr der gefürchtete Absturz. Der zweite wichtige Punkt ist die Abmilderung der Sanktionen. Dabei folgt Heil einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, das die Sanktionen auf 30 Prozent vom Regelsatz begrenzte. Wer mit dem Jobcenter nicht kooperiert, Weiterbildung und Jobangebot dauerhaft ablehnt, dem können deswegen nur noch maximal 30 Prozent vom Regelsatz abgezogen werden.
Der „Verzicht auf Sanktionen“ sei die Einführung des „bedingungslosen Grundeinkommens durch die Hintertür“, rügte FDP-Sozialexperte Pascal Kober. Da ist er wieder, der Missbrauchsverdacht, der an Hartz IV klebt wie Dreck am Straßenschuh: Was, wenn LeistungsempfängerInnen im Jobcenter gar nicht mehr aufkreuzen, sich auf Dauer mit dem gekürzten Regelsatz, der Erstattung der Wohnkosten und einem einträglichen Schwarzjob ihre privaten Kombi-Einkommen basteln? Auf Kosten der Verkäuferin, des Bauhandwerkers, die Vollzeit ackern und Steuern zahlen? Würde ein Gesetzentwurf, der Sanktionen dauerhaft begrenzt, sogar mehr von jenen Missbrauchsfällen hervorbringen, die in den Medien gerne breitgetreten werden?
Wer mit Fallmanagern spricht, hört, dass der dauerhafte – vermutete – Missbrauch die Ausnahme ist. Ja, es gibt LeistungsempfängerInnen, die wenig motiviert sind, herauszukommen aus Hartz IV: Leute, die sich mit der Leistung und einem Minijob plus Schwarzarbeit eingerichtet haben. Auch Überschuldete, sogar Unterhaltsverpflichtete, haben manchmal zu wenig Antrieb, um sich aus der Leistung zu lösen. Aber, so sagen die Fallmanager, das ist eine kleine Minderheit. Eine Minderheit, wegen der die Mehrheit der LeistungsempfängerInnen unter einen Generalverdacht gestellt wird.
Höchst unterschiedliche Schicksale
Unter dem löchrigen Schirm von Hartz IV sitzen nämlich Menschen mit höchst unterschiedlichen Schicksalen: chronisch Kranke, Depressive, AlkoholikerInnen, Geflüchtete mit mangelnden Deutschkenntnissen, notleidende Kleinselbstständige, ehemalige Strafgefangene, pflegende Angehörige, Alleinerziehende mit kleinen Kindern. Zwei Drittel der Hartz-IV-EmpfängerInnen leben von der Leistung schon länger als zwei Jahre, fast die Hälfte sogar schon länger als vier Jahre. Die Mehrzahl hat keine Berufsausbildung.
Der Gesetzentwurf kippt die „Eingliederungsvereinbarung“ mit ihren starken Sanktionsmöglichkeiten als rechtlich verbindlichen Vertrag zwischen Jobcenter und LeistungsempfängerInnen. Der Druck durch diese Vereinbarungen hat mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht.
Wer mit Fallmanagern spricht, hört, dass der dauerhafte – vermutete – Missbrauch die Ausnahme ist
Der Gesetzentwurf schreibt stattdessen „Kooperationspläne“ vor. Diese betonen ebenfalls die Eigenverantwortung, räumen aber der Weiterbildung, möglichst der selbstgewählten Weiterbildung, einen Vorrang ein vor der bloßen Vermittlung in irgendeine Arbeit.
Der Gesetzentwurf von Heil wird angesichts des Widerstands der Union in dieser Legislaturperiode wohl nicht umgesetzt, also in den Bundestagswahlkampf einfließen.
Dort könnte er eine Debatte auslösen über eine neue Perspektive auf Hartz-IV-EmpfängerInnen, mit Respekt vor deren Unterschiedlichkeit, deren Möglichkeiten und individuellen Grenzen. Es wäre eine Bereicherung, es wäre überfällig.