GESELLSCHAFT Müssen die Alten Platz machen für die Jungen?
Freundin Hille hat neuerdings auch ihr Schuldgefühl. Sohn Alex, Schwiegertochter und Enkelin wollen nach Berlin zurückziehen. Hille wohnt mit Ehemann Günni in ihrem alten Reihenhäuschen, mit mehr Zimmern, als sie brauchen. Tja.
„Vielleicht müssten wir ausziehen“, sagt Hille, „aber Alex ist zum Glück der Meinung, er würde nicht in sein Elternhaus zurückwollen … allerdings, wenn wir wirklich ausziehen würden …“ Hille seufzt, „aber wir wollen nicht weg, das Opfer will ich nicht bringen“.
Man kann sich wegen vielem schuldig fühlen als Alte, die Jüngere angeblich blockiert oder belastet. Zum Beispiel: Weg mit dem Quadratmeter-Adel, den Alten, die in ihren zu großen Häusern oder Wohnungen hocken, oft mit günstigem Altmietvertrag, und nicht mal tauschen wollen mit den Jungen in ihren zu engen Bleiben! Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat es neulich vorgerechnet. Fast jede zehnte Mietwohnung der über 70-Jährigen in deutschen Großstädten ist unterbelegt, da gibt es einige Zimmer mehr, als die Bewohner:in braucht. Schuldig!
Frauen leben besonders lang
Als Babyboomer gelten in Deutschland die geburtenstarke Generation der 54- bis 68-Jährigen, die wachsen in das Schuldigsein gerade erst so richtig rein. Die gehen nämlich nach und nach in Rente, und es werden die nächsten zehn Jahre immer mehr werden. Überall Fachkräftemangel und die Boomer hauen in den Sack! Und verfrühstücken dann die Rentenbeiträge der Jungen. Schuldig!
Besonders viel Schuld laden Frauen auf sich, die leben länger als die Männer. Und gehen öfter zum Arzt. Babyboomerinnen in Wartezimmern ruinieren das Sozialsystem. Schuldig!
Und erst die Pflege. Ein schwarzes Milliardenloch. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird wachsen, wenn die Babyboomer:innen in die Hochaltrigkeit kommen. Irgendwer muss ihnen den Arsch abwischen. Und die Jungen müssen alles bezahlen, die Pflegekassenbeiträge werden in schwindelnde Höhen steigen. Schuldig!
Es gibt eine Nebenwirkung: Die Angst vor der Hochaltrigkeit. Ich kenne Leute, die schon mal vorsorglich eingetreten sind in Organisationen, die Suizidassistenz anbieten. Hochaltrige Männer bringen sich nicht selten um.
Es wird keine Lösung sein, die Begleiterscheinungen der Langlebigkeit, des medizinischen Fortschritts, der niedrigen Geburtenraten, der Wohnungsnot, des Gefälles zwischen Reich und Arm, zu überdecken mit dem Hass auf die Alten. Der letztlich Selbsthass ist.
Meine Heldin der Hochaltrigkeit ist Tante Zilly. Sie starb mit 98 Jahren alleine zu Hause, nahezu erblindet, mit ambulanter Pflege. Wenn die Amseln vorm Fenster flöteten und ihr Pfleger von seinem Kalligrafiekurs schwärmte, lebte sie auf.
Die Menschen haben Angst davor, in den Spiegel zu schauen, weil sie dort das Nichts sehen, sagte Andy Warhol mal. Wir brauchen mehr Mut vorm Spiegel, in einer Gesellschaft der Langlebigen.