VERTEILUNG Corona offenbart die wirtschaftliche Verwundbarkeit vieler Selbstständiger. Das wirft neue Gerechtigkeitsfragen auf
Wenn die Linkspartei einen staatlichen „Unternehmerlohn“ fordert, aus Steuermitteln, die auch ArbeitnehmerInnen aufbringen müssten, dann spürt man, dass sich etwas verändert hat in den politischen Maßstäben. Der Unternehmer, der Selbstständige als schützenswertes Objekt, das ist neu. Wer stark ist und wer schwach, das ist in Zeiten der Coronapandemie nicht mehr so leicht zu bestimmen.
Die wirtschaftliche Verwundbarkeit von Selbstständigen, viele davon in der privaten Dienstleistung, zeigt sich wie nie zuvor. Selbstständige in Dienstleistungbranchen, besonders im Kulturbereich, sind durch den Teillockdown bis in den Januar hinein mit einem faktischen Berufsverbot belegt oder leiden indirekt unter den Kontaktbeschränkungen. Der Staat will ausgleichen: Mehr als 30 Milliarden Euro an Steuermitteln wird es im November und im Dezember als sogenannte „Novemberhilfen“ der Bundesregierung für Unternehmen und Soloselbstständige geben. Damit sollen Umsatzausfälle kompensiert werden. Zum Vergleich: Die Kosten für Hartz-IV-Leistungen belaufen sich auf rund 34 Milliarden Euro. Im Jahr. Die „Novemberhilfen“ sollen zum Jahresende auslaufen, und danach soll es die „Überbrückungshilfen“ geben, die sich aber wieder nur an den Fixkosten der Betriebe, nicht am Umsatzausfall, orientieren. Die Chancen stehen inzwischen schlecht für den „Unternehmerlohn“, den Linke und Grüne für den Lebensunterhalt gebeutelter Soloselbstständiger fordern.
Dass Selbstständige als Opfergruppe so deutlich in Erscheinung treten, ist eine Verschiebung auch in der soziokulturellen Schichtenbildung der Mittelschichtmilieus. Dort ordnete man den „Selbstständigenstatus“ nicht in eine Kategorie der Schwachen ein. Wer sein eigenes Unternehmen führt und die damit verbundene Bürokratie bewältigt, dem oder der schreibt man ein hohes Maß an Autonomie zu.
Die Gruppe der Selbstständigen war immer sehr heterogen
Die Gruppe der Selbstständigen und deren Einkommen war allerdings immer höchst heterogen. Es ist ein Unterschied, ob ich eine Arztpraxis führe, Betreiberin eines Kosmetikstudios, KneipenwirtIn oder Essensausfahrer bin. Corona verstärkt die Unterschiedlichkeiten. Es machen Geschichten von Bau- oder Software-UnternehmerInnen die Runde, denen es blendend geht in Coronazeiten, während der geschlossene Stammitaliener oder die arbeitslos gewordene Fitnesstrainerin bemitleidet werden.
Selbstständige eint aber eines: Sie hatten bisher eher wenig mit dem Sozialstaat zu tun. Der oder die Selbstständige ist der Lonely Wolf des Sozialstaats. Selbstständige zahlen nicht in die Sozialkassen ein und bekommen kein Kurzarbeitergeld, kein Arbeitslosengeld, keine gesetzliche Rente. Typisch für die Soziokultur der Selbstständigen sind die Klagen über die hohe Steuerlast, das Wissen über die Steuergestaltung, über die „Steuertricks“. Selbstständige bekommen ihre Bruttoeinnahmen erst einmal auf das Konto und müssen dann erst davon Steuern abführen und eine teure Krankenversicherung zahlen. Das schmerzt mehr, als wenn man als Angestellte auf dem Konto immer nur das Netto sieht.
Die neue Rolle der Selbstständigen als vulnerable Gruppe verstärkt die Labilität in den Mittelschichtmilieus. Diese Labilität hat ohnehin schon zugenommen, denn die Globalisierung vervielfältig die Maßstäbe. Gegenüber dem stündlichen Einkommen von Amazon-Chef Jeff Bezos (10 Millionen Euro) schafft es ein Wirtschaftsanwalt in Stuttgart mit Einfamilienhaus und ein paar Hunderttausend Euro im Depot, sich als irgendwie benachteiligt zu fühlen. Einerseits.
Auch globale Armut wird hierzulande sichtbarer
Andererseits aber ist die globale Armut durch die Fluchtmigration auch in deutschen Metropolen sichtbarer geworden. Wer Flüchtlingsheime von innen kennt, wähnt sich mit seiner bezahlbaren Balkonwohnung und einem Durchschnittseinkommen als GrundschullehrerIn schon an der wohlhabenden Weltspitze.
Die labile Stimmung in den Mittelschichtmilieus stellt die Parteien im Bundestagswahlkampf 2021 vor Probleme. Was kann man wem abverlangen? Wirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, hat Steuererhöhungen auf Vermögen und für Unternehmen in Coronazeiten gerade erst wieder abgelehnt. Es ist aber fahrlässig, wenn sich Parteien den Weg zu höheren Steuern und Abgaben verbauen. Genauso fahrlässig ist es, die Abgabenbereitschaft in den Mittelschichten zu unterminieren. Der Deutsche Gewerkschaftsbund wirft Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor, durch neue Gesetze die „Beitragstöpfe“ der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen zu „plündern“. Es bringt aber nichts, wenn man wie der Gewerkschaftsbund nur nach irgendwelchen imaginären Steuermitteln des Staats schreit, ohne deren Herkunft genauer zu spezifizieren.
Saskia Esken, SPD, fordert Abgaben nur von den „sehr, sehr hohen Vermögen“. Es würde aber nicht funktionieren und nicht genügen, einfach nur den „Superreichen“ in Deutschland viel Geld wegzunehmen, als säßen sie auf einem Geldberg wie Dagobert Duck, den man nur nach und nach abtragen müsste. Höhere Besitzsteuern sind angebracht, aber in großem Stil kann man nur umverteilen durch die Belastung von Vermögen und laufenden Einkommen bis in die Mittelschichten hinein. Das ist unpopulär.
Womöglich hat aber trotzdem im Wahlkampf 2021 eine Partei gute Chancen, die solche Verteilungsprozesse glaubwürdig moderiert und dabei weder Abstiegsängste befeuert noch falsche Versprechungen macht. Eine Partei, die einen Konsens herstellen kann über die Verteilung von Abgaben und Zumutungen, dabei auch mal unbequem und vielleicht deswegen glaubwürdig ist auch für die labilen Mittelschichtmilieus. Wie ehrlich und wie mutig die Parteien sein werden – das ist die spannende Frage für 2021.