Barbara Dribbusch

Journalistin & Autorin

Hirschgulasch für Robinson | TAZ 22.12.2014

Ist man eine Heldin oder ein Loser, wenn man an Heiligabend allein bleiben will?

Die Sache mit der Verlassenheit kommt ja immer aus der Kindheit. Wir hörten am Abend zu Hause im Radio das Gutenachtlied, irgendein Kinderchor. Mein Vater stellte das Radio laut, sodass der Kinderchor durch die Wohnung hallte wie aus einer anderen Welt. Die Kinderstimmen sangen: „Schlaf in guter Ruh. Tu‘ die Äuglein zu, höre wie der Regen fällt“. So weit, so kuschelig. Aber dann kam es: „Hör‘ wie Nachbars Hündchen bellt. Hündchen hat den Mann gebissen, hat des Bettlers Kleid zerrissen, Bettler läuft der Pforte zu: Schlaf in guter Ruh!“ An dieser Stelle kroch die Angst in mir hoch. Ich fühlte mit dem Bettler. Gebissen, weggejagt, einsam draußen im Regen. Und das ist den Leuten drinnen völlig egal, der Kinderchor sang ungerührt weiter: „Schlaf in guter Ruh!“ Ein unheimliches Lied.

Das Lied fiel mir neulich wieder ein, als Bine bei mir in der Küche saß. „Alle andern feiern hinter hell erleuchteten Fenstern, nur man selbst schleicht einsam durch die Nacht, die Loserin, die Abgemeierte“, sagte sie und nippte am Glühwein, „das ist die typische Weihnachtsparanoia. Aber nicht mit mir.“ Bine will an diesem Heiligabend alleine bleiben, ganz bewusst. Den Freund hat sie nicht mehr, die Kinder sind in Übersee. Zwei Freundinnen, darunter auch ich plus Familie, sind verreist. Es bliebe ihr nur übrig, zu ihrer Schwester nach Stuttgart zu fahren, deren Ehemann sie nicht mag, oder sich an das Gruppenessen bei Theresa dranzuhängen. „Aber ehrlich“, sagt Bine, „ich habe keine Lust auf die Leute von Theresa, die reden nur wieder über Immobilien. Mit denen würde ich auch sonst nicht essen wollen. Und jetzt an Heiligabend? Bloß keine Notgruppe!“

Bine reiht sich ein in die Reihen der AlleinbleiberInnen, die jede Notgemeinschaft an Heiligabend verabscheuen. Dazu gehört auch Silke, die damals nach der Trennung von Richard auf keinen Fall wieder zu ihren Eltern nach Karlsruhe fahren wollte, aber auch nicht in den Familien von Freunden feiern möchte. Silke kauft immer eine große Portion Hirschgulasch für ihren Kater Robinson und schlägt für ihn Sahne auf. Robinson verzehrt beides mit Genuss und das Fernsehprogramm ist durchaus in Ordnung, wenn man bei den Kling-Glöckchen-Klingelingeling-Sendungen wegschaltet, berichtet Silke.

Dann gibt es noch Pit. Er ist aus irgendwelchen Gründen Dauersingle und möchte auch nicht in den Familien seiner Freunde mit unter dem Weihnachtsbaum sitzen. Dieses Jahr an Weihnachten will er in einen Film über eine Männerwohngemeinschaft gehen, in der die Männer alle Vampire sind. In den Stunden davor macht er seinen traditionellen Weihnachtsspaziergang durch die Stadt. „Es ist toll, wenn die Straßen so leergefegt sind wie bei ,The Day After'“, schwärmt Pit.

Bine weiß noch nicht, was sie macht. „Vielleicht zünde ich drei Kerzen an und schreibe ein Gedicht“, sinniert sie. „Wir könnten eine SMS-Kette an Heiligabend machen“, schlage ich vor, „so gegen 20 Uhr schicken wir einen Gruß herum, egal, wer wo ist.“ Das täte auch mir gut, Familie hin oder her. Denn der Bettler aus dem Lied, der steckt immer noch drin.